Von jemandem, der auszog, um seinen Eltern das Lernen an einer Freien Schule zu erklären

„… Aber wenn die Schüler den ganzen Vormittag selbst entscheiden können, was sie machen, dann lernen die doch nichts!“ Meine Mutter schaut mich skeptisch an. Mein Vater und ich glotzen verwirrt zurück. Ich bin zu Besuch bei meinen Eltern und habe mir mit ihnen zum ersten Mal das Schools-of-Trust Heckenbeck Portrait angeschaut.
( https://www.youtube.com/watch?v=KoLBWQobgGo)

Freie Schule erklären
Spielen oder Lernen? – Auf den ersten Blick scheint es Außenstehenden oft unbegreiflich, weshalb sich ein Kind freiwillig in den Unterricht begeben sollte.

Mein Vater ist schnell begeistert von der Natur ringsum und dem Schulgebäude. Meine Mutter hingegen scheint erst jetzt zu begreifen, dass die Kinder und Jugendlichen an unserer Schule ihren Schulalltag größtenteils selbstständig gestalten. Sie kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Schüler*innen mit einer solchen Freiheit verantwortungsvoll umgehen können. Gerade die Jüngeren würden ihrer Meinung nach doch mit Sicherheit nur spielen und ihren Tag verplempern. Also fange ich an zu erklären …

Ich fange damit an, die Freiheit an unserer Schule zu erklären:

Tatsächlich ist es für Außenstehende in der Regel schwer nachzuvollziehen, dass Lernen auch (bzw. gerade) ohne Druck und Zwang stattfindet. In den zehn Jahren, in denen die meisten von uns auf eine Regelschule gegangen sind, wurde uns immer wieder eingetrichtert, dass Noten und ein getakteter Stundenplan ein notwendiges Übel sind. Ohne dieses Übel – so die weitverbreitete Meinung – würde überhaupt nicht gelernt werden. Die würden Schüler*innen sofort in einen genußorientierten Zustand verfallen, in dem sie sich mit Spiel und Spaß den Tag vertreiben und niemals den Antrieb verspüren, sich Buchstaben und Zahlen systematisch zu erschließen.
Besucht man nun zum ersten Mal unsere Schule, scheint sich diese Befürchtung zu bestätigen. Besonders in der Primaria (Bereich der Jahrgänge 1 bis 3-4) sieht man unzählige Kinder, die spielen, toben, bauen, malen, experimentieren, streiten, lachen oder weinen. Kinder, die konzentriert in einem Matheheft rechnen oder Buchstaben fein säuberlich auf Linien schreiben, sieht man hingegen selten. Ab und an erhascht man mal einen Blick in einen Lernraum, in dem ein Lernbegleiter mit einem oder zwei Kindern sitzt und mit ihnen systematisch in den Bereichen Lesen, Rechnen, Schreiben arbeitet. Die anderen Kinder machen ringsum weiterhin das, was sie wollen.

Wie effektiv ist freies Lernen?

 

erklären
Durch die Herausforderungen des alltäglichen Zusammenlebens kann eine Vielzahl sozialer Kompetenzen erworben werden. In der Primaria werden somit die Grundbausteine für die weitere Entwicklung der Kinder gelegt.

Schaut man jedoch genauer hin merkt man schnell, dass die Kinder in den unteren Jahrgängen nicht einfach ihre Zeit verschwenden, bis sie dann ab der dritten oder vierten Klasse freiwillig an strukturierten Kursen (wie z.B. Englisch Grundkurs, Deutsch Grundkurs, Mathe 1 usw.) teilnehmen. Gerade in der Primaria lernen die Kinder allein durch die Herausforderungen des täglichen Zusammenlebens eine Menge im Bereich grundlegender sozialer Kompetenzen: Wie kann ich jemanden mitteilen, dass ich etwas nicht möchte oder, dass ich traurig bin, weil mir wehgetan wurde? Wie schaffe ich es, nicht sofort auf ein anderes Kind loszugehen, wenn es mich beleidigt hat oder ich wütend bin? Worauf muss ich achten, wenn ich mit mehreren Menschen auf begrenztem Raum zusammen spielen oder arbeiten möchte? Was sind meine Stärken? Womit beschäftige ich mich gerne? Was kann ich noch nicht so gut? Was möchte ich eigentlich erreichen?

In der Primaria legen wir den Grundstein für die weitere schulische Entwicklung. Wir geben den Kindern den Raum und die Möglichkeit, sich diese Fragen zu stellen und sie in ihrem Rahmen und ihrem Tempo zu beantworten. Dies nimmt unweigerlich viel Zeit in Anspruch. Es führt dazu, dass die „Lernzeit“, in der tatsächlich systematisch am Erwerb von Zahlen und Buchstaben gearbeitet wird, insgesamt sehr viel knapper ist als an Regelschulen. Das bedeutet aber nicht, dass Lernen im Bereich der Kulturtechniken (Lesen, Rechnen, Schreiben) nicht trotzdem stattfindet – es spielt sich nur nicht in strukturierten Kursen, sondern vielmehr in der alltäglichen Begegnung, im neugierigen (Nach-)fragen, im Einzelkontakt mit den Lernbegleiter*innen, im „Bücheranschauen“, Geldspielen usw. ab. Vielleicht auch gerade durch dieses ganzheitliche „in-Kontakt-kommen“ machen wir oft die Erfahrung, dass

Lernen an Freien Schulen erklären
Das Lernen im Bereich der Kulturtechniken findet an Patricks Schule auch in der alltäglichen Begegnung, im neugierigen (Nach-)fragen, im Einzelkontakt mit den Lernbegleiter*innen, im „Bücheranschauen“, Geldspielen usw. statt.

Schüler*innen, die in ihrer „Grundschulzeit“ nicht 2 bis 4 Stunden wöchentlich systematischen Deutsch- oder Matheunterricht erhalten haben, bestimmte „ schulische Lernrückstände“ mit der Zeit teils sehr schnell aufholen. Mit dem Wechsel in die Sekundaria (Bereich der Jahrgänge 4 bis 7 ) haben viele Kinder meist grundlegende Entwicklungsprozesse abgeschlossen und sind nun bereit, sich systematisch das schulische Basiswissen anzueignen. In Verbindung mit den kleinen Kursen, der i.d.R. sehr guten Lehrer*in-Schüler*in-Beziehung sowie der immer noch möglichst freien und eigenständigen Zeit- und Pausenaufteilung arbeiten die Schüler*innen den Schulstoff sehr schnell nach. Am Ende der zehnten Klasse sind sie meistens in der Lage, die Abschlussprüfung für die mittlere Reife zu bestehen (und das sehr oft mit guten bis sehr guten Noten). Daneben bleibt aber – und das ist wirklich ein Gewinn – das individuelle Interesse vieler Schüler*innen an Dingen wie Kunst, Theater, Musik und Technik erhalten. Es entwickelt sich permanent weiter.

Intrinsische Motivation

Während ich versuche, all dies meinen Eltern zu erklären, nickt mein Vater zustimmend und erinnert sich an seine eigene Schulzeit. Damals hatte er fast nie im Unterricht aufgepasst. Die meiste Zeit war er damit beschäftigt, Quatsch zu machen oder sich vom Gelaber seiner Mitschüler ablenken zu lassen. Wie viel Zeit hatte er bloß verschwendet und wie wenig hatte er wirklich das mitbekommen, was er hätte mitbekommen sollen? Er finde es durchaus einleuchtend, dass wir die Schüler*innen nicht permanent zwingen, im Unterricht aufmerksam zu sein sondern ihnen die Möglichkeit geben, sich ihren eigenen Bedürfnissen gemäß zu entwickeln und zu lernen. Und auch meine Mutter scheint eingesehen zu haben, dass es oft viel effektiver ist, mit Kindern etwas zu machen, wenn sie dazu bereit oder motiviert sind – anstatt sie wöchentlich zu etwas zu zwingen, auf das sie absolut keine Lust haben. Von dem sie vielleicht auch noch gar nicht wissen und verstehen können, was ihnen das irgendwann einmal bringen wird. Ich bilde mir indes ein, dass zum Ende meiner Erklärung der Blick meiner Mutter weniger skeptisch ist. Vielleicht denkt sie ja gerade: „Hmm, wenn die Schüler also den ganzen Vormittag selbst entscheiden können, was sie machen wollen, womöglich lernen sie dann erst recht etwas!“

Lehrer freie Schule Niedersachsen
Patrick ist Lernbegleiter an einer Freien Schule in Niedersachsen. Hier berichtet er wöchentlich über seine Erlebnisse.

 

 

 

 

 

 

 

Zu Patricks letztem Artikel über das Regelwerk an seiner Schule geht’s hier: Von jemandem, der auszog, um Regeln an einer Freien Schule einzufordern

Und wenn du mehr über die Regelwerke und das Regelbrechen an anderen Schulen erfahren möchtest, lies nach, was Alexander über die Diablo Valley School in den USA schreibt: Wenn man eine Regel bricht – ein Fallbespiel (TEIL I)

 

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2 Antworten

  1. Lieber Patrick, danke für deine lebendige, passende Beschreibung!
    Vieles davon könnte ich mit 17 Jahren Erfahrung an unserer Freien Aktiven Schule in Stuttgart ganz ähnlich schildern – welche typische Fragen Außenstehende stellen – welchen Entwicklungsfeldern sich viele der „freien“ Kinder bevorzugt in welchem Alter widmen – wie sich Selbstempathie, emotionale Intelligenz und soziale Kompetenzen im Spiel ausbilden – wie das informelle Lernen die Grundfäden für komplexe Wissensnetze spannt – und wie leicht Kindern das Erlernen von Kulturtechniken fallen kann, wenn sie bereit dazu sind.
    Ich freue mich schon auf deinen nächsten Text! Katrin

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