Die Visionssuche

Der herrliche Duft von verbranntem Salbei steigt mir in die Nase.
Ich bin an der Schwelle zu meiner ersten Visionssuche und aufgeregt.
Meine beiden Guides sprechen Gebete und fächern mit Federn den Rauch von
Salbei in mein Energiefeld.
Ihre Wörter klingen wie Beschwörungen aus fernen Zeiten – und doch so nah und vertraut.
Langsam verlasse ich die Schwelle, packe meinen Rucksack, zwei Wasserkanister und meine Unterlagsmatte. Die Plane habe ich noch in meinem Rucksack verstaut.
Für mehr ist nicht Platz. Nicht einmal ein Zelt sollte mit auf die äußere und innere Reise. Nur ich und die Wildnis. Sogar das Essen bleibt für die nächsten Tage im Base-Camp.
Ich schaue mich um. Death Valley hat seinen ganz besonderen Reiz. Obwohl es Ende Dezember ist,
scheint an diesem Ort die Sonne kaum Kraft verloren zu haben. Der Höhepunkt der Visionssuche hat
nun begonnen!

Wieder stehe ich an der Schwelle – diesmal in New Mexico.
Ich habe mich entschieden, die Ausbildung zum Vision quest guide zu machen.
Zu sehr hat die erste Visionssuche mein Leben verändert. Ich bin zutiefst überzeugt von der Kraft dieses Rituals.
Vieles hatte ich schon probiert – einiges hatte auch wunderbare Wirkungen. Nur – die Visionssuche, die ging tiefer als das meiste zuvor.
Mein Leben wurde buchstäblich transformiert.
Ich marschiere hinaus in die trockene Wildnis von New Mexico, zwei Geier weisen mir den Weg.
Vier Tage und vier Nächte begebe ich mich wieder in diese Intimität. Keine Ablenkung – nur die Natur und ich, ganz allein. Kein Baum, der sagt: Tu dies und mach das. Keine Wolke, die meint, sie wüsste, was das Beste für mich sei. Die Natur spricht schweigend zu mir. Kein Aufdrängen, kein Raumnehmen – sondern endlose Weite. Ich bin mir wieder ganz nahe und stolpere über Kojote.
Ein großes Lachen erfasst mich. Ich tanze – und keiner sieht mich. Ich weiß, was zu tun ist.

Zurück in Österreich gründe ich mit unbändig-verrückter Kraft das 1. Naturpädagogik-Wahlpflichtfach Österreichs, danach beginne ich an meinem Buch „Kopfsprung ins Herz – Als Old Man Coyote das Schulsystem sprengte“ zu schreiben.
Old Man Coyote hatte es mir angetan. Nun ist der Heldenroman erfolgreich am Markt und hat seinen großen Spaß daran. Ich genieße es. Begonnen aber hat alles – bei meiner letzten Visionssuche in den USA.

Bei beiden Visionssuchen stand ich vor Übergängen. Einmal in punkto Familie und das zweite Mal vor einer beruflichen Veränderung.

Der vielleicht größte Übergang im Leben – abgesehen vom Tod – das ist aber wohl jener, wenn wir erwachsen werden.

Und genau hier an diesem Punkt, an dieser Schwelle – wo sich alles neu zu drehen beginnt – da bieten wir als Gesellschaft für die heranwachsende Generation kaum etwas an. Die Firmung bzw. Konfirmation scheint ein Restritual zu sein, das in sich einen wunderbaren Geist tragen würde. Nur gelingt es auch hier meist nicht, die Jugendlichen abzuholen und einen kraftvollen Mentor während der Initiation an die Seite zu stellen.
So überlassen wir die Jugendlichen einer zufälligen und von zu vielen äußeren Faktoren abhängigen Reifung.
Viele werden niemals reif. Sie stolpern in ihr Erwachsenen-Leben, ohne je bewusst die Schwelle gespürt zu haben. Manche rotten sich in Gangs zusammen – und erfinden Rituale, gefährliche Rituale, denen die Weisheit fehlt. Andere organisieren sich in „Peer groups“, denen es an Kraft fehlt.
Die Suche und das Finden der eigenen inneren Wahrheit, der eigenen Träume verblasst im Lärm der täglichen Inputs einer immer schneller taktenden Informationsgesellschaft.
Die Visionssuche bietet sich hier als ein wunderbares Übergangsritual an. Sie lädt ein zu einem tiefen Spüren des eigenen Wesens, des eigenen Weges. Sie macht frei von den Erwartungen anderer, Fremdbestimmungen können losgelassen werden – und der eigene Weg erscheint kraftvoll vor dem inneren Auge. Nur – will man überhaupt kraftvolle junge Menschen, die sich der eigenen Träume, der eigenen Vision und Mission bewusst sind? Oder will man nicht eher Konsumenten, die, betäubt vom Überangebot und der Beliebigkeit, die Maschine am Laufen halten?
Es gibt sie aber – die wenigen Angebote für Jugendliche, um in der Natur, in der Wildnis sich selbst zu entdecken. Hier sind Erwachsene Mentoren im besten Sinne. Sie begleiten kraftvoll, ohne zu gängeln. Der wahre Lehrer ist die Natur und die innere Führung des Jugendlichen.
Erwachsene Mentoren begleiten und schützen nur den Prozess der Verpuppung der Raupe und des Schlüpfens des Schmetterlings.
Es ist fantastisch, dass mittlerweile ein paar wenige Schulen freiwillige Angebote zur Visionssuche bzw. zu „Walk aways“ geben.
„Wenn wir nicht unsere Jungs initiieren, dann werden sie unser Dorf niederbrennen, nur um die Hitze zu spüren“ – ist ein afrikanisches Sprichwort, das einen wichtigen Punkt von Initiationsriten beschreibt.
Gerade auch Jungs wollen die Hitze ihrer eigenen Seele, ihres Auftrages in der Welt tief spüren und leben.
Wenn wir sie nicht die Fackel ihres eigenen Lebens tragen lassen, dann besteht die Gefahr, dass sich ihre männliche Kraft gegen die Gesellschaft richtet. Bei einem Blick auf die Lage der Welt muss man wohl anerkennen, dass zu viele Männer nicht initiiert sind. Ihre kindlichen Aggressionen sind derzeit  dabei, in erwachsenen Körpern den Planeten in schwerste Bedrängnis zu bringen.

Und so ist es geradezu eine Notwendigkeit, die Kraft der Initiation wieder zurückzuholen in unsere technokratische Welt, die meint, alles selbst steuern zu können.
Gerade die Schule ist aufgerufen, für den Planeten und die Seelen der Kinder einzutreten – und nicht bloß Material für eine Wirtschaftsmaschinerie zu liefern, die drauf und dran ist, erstmals
in der Menschheitsgeschichte den Planeten zu ruinieren.
„Erwachsen werden in der Wildnis“ war der großartige Dok-Film, der mich zu meiner ersten Visionssuche inspirierte. Erwachsen werden in der Wildnis – ein ganz besonders kraftvoller Weg ins Erwachsensein.
Wenn wir die Global Goals der UN auch als Schule ernst nehmen, dann kann das Instrument der Visionssuche einen tiefen und großartigen Beitrag für eine bessere Welt der Potentialentfaltung leisten.
Und es ist an der Zeit für einen Paradigmen-Wechsel von der Ressourcenausbeutung zur Potentialentfaltung.

 

Gerald Ehegartner ist derzeit Lehrer an einer Neuen Mittelschule in Österreich.
Kopfsprung ins Herz – Als Old Man Coyote das Schulsystem sprengte“ ist sein Debütroman – und wurde nach seinem Erscheinen nicht nur Bestseller des Verlages, sondern auch Bestseller Nr. 1 bei Amazon.

Gerald ist ausgebildeter Natur- und Wildnispädagoge, Mitbegründer des 1. Naturpädagogik-Wahlpflichtfaches in Österreich – sowie „Vision quest guide“.
Er ist auch Teil des „Lernweltteams“  http://www.lernwelt.at/leitung/team/index.html sowie der „Akademie für Potentialentfaltung“.
Nähere Informationen zum Autor findet man unter: www.geraldehegartner.com

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