Das Märchen vom (Bildungs-)Schlaraffenland

Es war einmal ein junger Mensch, der steckte voller Neugierde, Tatendrang und Offenheit. Und er machte sich auf, seine Welt zu entdecken, die ihm an jeder Ecke neue Abenteuer bot. Eines Tages traf er auf eine gütige Fee. Für den jungen Menschen war das nicht verwunderlich, denn ihm erschien nichts unmöglich. Die Fee lud ihn ein, ein Land zu besuchen, in dem er – so verhieß sie ihm – seine Neugierde stillen könne. Der junge Mensch vertraute in all die Wesen, die ihm begegneten und so ging er mit ihr in dem frohen Glauben auf eine gute Zuteilung durch die gütige Fee.

„Nun, hier siehst du einen Teil des Landes“, sagte die Fee und wies über ein großes Feld, in dem viele junge Menschen auf Stühlen saßen. Einige lasen emsig in Büchern, einige meldetet sich eifrig, um von großen Riesen wahrgenommen zu werden, die hoch oben auf Bergen thronten. Einige schliefen oder schienen mit ihren Gedanken weit entfernt. „In diesem Land wird deine Neugierde gestillt.“ sprach die Fee. „Du bekommst eine enorme Menge an Wissen präsentiert und du wirst am Ende deiner Reise durch dieses Land vielleicht das haben, was als „Allgemeinbildung“ bezeichnet wird. Dieses Wissen wird extra für dich in kleine Häppchen eingeteilt – du bekommst es nach und nach serviert und musst nur zuschnappen. Du wirst Menschen treffen, die dich inspirieren. Du wirst Freunde finden. Je länger du hier bleibst, je mehr du erreichst, desto mehr Türen in andere Länder der Riesen werden sich für dich einfach öffnen. Wenn du die Riesen zufriedenstellst, werden sie dich belohnen mit guten Noten und viele werden dich dafür bewundern. Naja, manche werden dich deshalb auch doof finden – aber siehe, auch das kannst du hier lernen: Ob und wie du damit umgehen kannst, wenn andere dich doof finden…“ Für unseren jungen Menschen klang das sehr verheißungsvoll (mal abgesehen von dem Doof-finden), ja, das könnte ein Ort sein, an dem er Antworten auf seine neugierigen Fragen bekommen könnte. „Aber“, so fragte er die Fee, „gibt es auch Nachteile?“ Die Fee, die ja von berufswegen eine vertrauenswürdige Fee war, antwortete: „Du wirst nicht entscheiden können, wann du welche deiner vielen Fragen an das Leben beantwortet bekommst. Auf einige wirst du nie eine Antwort bekommen. Du wirst dich mit Fragen auseinandersetzen müssen, die nicht deine sind – vielleicht werden sie zu deinen werden, vielleicht auch nicht. Die Riesen werden dich antreiben, damit du Antworten suchst und dann möglichst auch nicht mehr so schnell vergisst. Sie werden dich bewerten und das wird dir oft Sorgen machen, weil du die Frage noch gar nicht verstanden hast, weit weg davon bist, sie beantworten zu können oder weil dein Leben gerade ganz andere Themen hat. Diese Bewertungen werden dich beflügeln, wenn sie gut ausfallen und du wirst mehr davon wollen. Es kann passieren, dass du darüber deine eigenen Fragen vergisst. Die Bewertungen werden dich sehr traurig machen, wenn sie schlecht erscheinen und du wirst dann sehr an dir zweifeln. Auch das kann dazu führen, dass du deine Lebensfragen vergisst. Und du wirst Wesen treffen, die verletzt sind und deshalb versuchen werden, dich zu verletzen.“

Der junge Mensch, der ja sehr an seiner Neugierde hing – schließlich verschaffte sie ihm jede Menge Abenteuer – war sich nicht so ganz sicher, ob dieses Land das richtige für ihn sei. Und da eine Fee ja in der Regel drei Wünsche aus dem Hut zaubern kann, konnte sie unserem jungen Menschen in diesem (schulpflichtigen) Land noch eine Alternative zeigen. Hinter einem kleinen Hügel fanden sie sich am Rande einer grünen Wiese wieder, auf der sich eine Menge anderer jungen Menschen tummelten. Auch hier saßen einige und lasen emsig in einem Buch, gleichzeitig wurde an einer anderen Ecke Fußball gespielt, im Sand gebaut oder einfach in der Sonne gelegen. Auch hier gab es Riesen, sie wanderten umher, saßen am Rand oder unterhielten sich mit den jungen Menschen. „In diesem Land“, so sprach die Fee, „kannst du Antworten auf deine Fragen finden. Du kannst sie stellen, wann immer die Zeit für dich dazu gekommen ist. Du kannst deine Antworten alleine finden oder gemeinsam mit den anderen jungen Menschen. Die Riesen suchen gerne mit dir und können dir Wege zeigen, die dich weiterführen. Du siehst, auch hier wirst du Freunde finden und auch Menschen, die dich inspirieren. Vielleicht hast du aber auch gar keine Fragen – dann kannst du Fußball spielen oder in der Sonne liegen.“ Dem jungen Menschen, der gerne mal in der Sonne lag, gefiel das sehr gut. „Mmh, da kommt jetzt aber sicher auch noch was, oder?“ wandte er sich fragend der Fee zu. „Dafür sind wir ja hier in einem Märchen, oder?! Selbst im wirklichen Leben hat alles mindestens zwei Seiten! Höre: Hier bekommst du nichts serviert. Es wird nichts in verdauliche Häppchen unterteilt, die du nur schlucken brauchst. Vielleicht werden dir manche Dinge deshalb hier gar nicht begegnen, an denen du Gefallen gefunden hättest (aber vielleicht begegnen sie dir dafür anderswo und zu einer anderen Zeit). Du trägst sehr viel mehr Verantwortung für deinen eigenen Weg, bist ein aktiv Suchender nach dem, was in dir brennt, was du gut kannst – das kann anstrengend sein. Du wirst auch an diesem Ort bemerken, was du nicht gut kannst – allerdings musst du es selbst herausfinden, keiner wird es dir über Noten beweisen. Um durch manche Tür gehen zu können, wirst du nach den Regeln der Riesen vom Feld spielen müssen und das kann dir schwer fallen. Und schließlich gibt es auch hier Verletzte…“

Der junge Mensch straffte seine Schultern, bereit, die Entscheidung der gütigen Fee mit Fassung zu tragen und mit der festen Überzeugung, das Beste aus seinem Weg zu machen – egal, wohin sie ihn schicken würde. Die Fee hob ihren Zauberstab und sprach: „Wisse, dass du wandeln kannst zwischen diesen Welten, aber sei gewarnt, dass jedes Jahr in der einen Welt dir den Rückgang in die andere Welt erschweren wird. Nichtsdestotrotz sollst du selbst erleben, was die eine und die andere Welt für dein Leben bedeutet. Wähle selbst!“

An dieser Stelle bricht das Märchen leider ab und ist nicht weiter überliefert. Unser junger Held fiel nämlich in dem Moment in Ohnmacht, in dem er begriff, dass er selbst entscheiden konnte. Indem er selbst entscheiden konnte, wo und wie er einen großen Teil seines Lebens verbringen wollte, einen Teil des Lebens, in dem so viele wichtige Entwicklungsstufen stattfinden werden, in dem durch äußere Beeinflussung Weichen für das ganze folgende Leben gestellt werden. Ein Märchen eben.

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